Mahnmal der Vlothoer Opfer

Auf dem Mahnmal für die Vlothoer Holocaustopfer ist auch der Name Ilse Charigs zu finden, obwohl sie schon 1933 nicht mehr in Vlotho lebte. Zum einen sollten damit alle Geschwister der Familie Mosheim auf dem Monument zusammengefasst werden. Doch es gibt noch einen anderen Grund, den Namen Charig auch in Vlotho nicht zu vergessen.

1926 zog Ilse Mosheim nach Stendal und heiratete den Rechtsanwalt Julius Charig, der zu diesem Zeitpunkt zu den bekanntesten jüdischen Persönlichkeiten der Weimarer Republik gehörte. Julius Charig führte eine Anwaltskanzlei in Emden, später in Stendal. Als Syndikus des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens verfasste er Gutachten über die Strafbarkeit antisemitischer Propaganda. 1925 provozierte Charig mit einer satirischen Broschüre eine Klage des Borkumer Pastors Ludwig Münchmeyer.

Antisemitische Propaganda

Dieser hatte mit Unterstützung des Kurdirektors Hempelmann die Nordseeinsel in ein „Antisemitenparadies“ verwandelt. Viele Hotels und Restaurants verweigerten die Aufnahme jüdischer Gäste und reservierten ihre Zimmer lieber für NS-Prominenz, wie den späteren Propagandaminister Joseph Goebbels. Unter der Ägide Münchmeyers intonierte das Kurorchester regelmäßig das „Borkumlied“, in dem es unter anderem hieß: „Borkum, der Nordsee schönste Zier,/ bleib du von Juden rein,/ laß Rosenthal und Levinsohn/ in Norderney allein (…)/ Wer dir naht mit platten Füßen,/ mit Nasen krumm und Haaren kraus,/ der soll nicht deinen Strand genießen,/ der muß hinaus, der muß hinaus!“

Charig wurde wegen Beleidigung Münchmeyers zu einer Geldstrafe verurteilt. Jedoch war es ihm gelungen, die Aufmerksamkeit von Politik, Presse und Gerichten auf die „Nazi-Insel“ zu lenken. Der Landrat feuerte den Kurdirektor, ließ die Musiker des Kurorchesters festnehmen und ihre Instrumente konfiszieren. Ein Aufführungsverbot des Borkumliedes hatte vor Gericht keinen Bestand. Das Absingen oder Vortragen des Textes blieb aber verboten. Die Landeskirche Hannover eröffnete ein Disziplinarverfahren gegen den umstrittenen Pastor und zwang ihn, den Dienst zu quittieren.

Deportation ins Warschauer Ghetto

Die erwartete Rache der Nationalsozialisten, für die Münchmeyer 1930 Reichstagsabgeordneter geworden war, blieb nach 1933 zunächst aus. Aufgrund seiner Berühmtheit und des so genannten „Frontkämpferprivilegs“ durfte Charig noch bis 1938 weiter als Rechtsanwalt tätig sein. 1942 wurden Ilse und Julius Charig ins Warschauer Ghetto deportiert. Julius Charig starb dort unter ungeklärten Umständen im März 1943. Ilse Charig wurde im selben Jahr in Treblinka ermordet. Für beide wurden 2006 in Stendal Stolpersteine verlegt.

Viele Geschichtswerke und Schulbücher erwecken den Eindruck, der Antisemitismus habe sich in Deutschland widerstandslos verbreitet. Tatsächlich gab es jedoch seit den 1890er Jahren, von jüdischer wie christlicher Seite, erhebliche Anstrengungen, dem Antisemitismus mit Aufklärung und den Mitteln des Rechtstaats entgegenzutreten. Ihr letztendliches Scheitern ist kein Grund, sie zu vergessen.

Von MGG-Vorstandsmitglied Thomas Graefe, veröffentlicht in der Vlothoer Zeitung am 27. Februar 2021

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