Guy Stern (links) und Christian Bauer

 „Wir sind nur noch wenige – Erinnerungen eines hundertjährigen Ritchie Boys“ heißt der Titel der Autobiografie, die jetzt zum 100. Geburtstag am 14. Januar 2022 von Guy Stern erscheint. Das Buch hat einige Bezüge zu Vlotho. Guy Stern wuchs als Günther Stern in Hildesheim auf. Vater Julius Stern, Sohn des Besitzers eines Bekleidungsgeschäfts im hessischen Ulrichstein, hatte seine spätere Ehefrau, die Kaufmannstochter Hedwig Silberberg, in Vlotho kennengelernt.

Als einziges Mitglied seiner fünfköpfigen Familie gelang Guy Stern 1937 die Emigration in die USA. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs erfuhr er, dass seine Angehörigen deportiert und im Warschauer Ghetto und in Auschwitz ermordet worden waren. Die USA gewährten ihm nicht nur Zuflucht und Bildung, sondern auch die Möglichkeit, gegen die Feinde seiner alten Heimat zu kämpfen, die ihm alles genommen hatten. Zusammen mit anderen deutsch-jüdischen Emigranten (darunter auch Stefan Heym und Klaus Mann) durchlief er das spezielle Trainingsprogramm der „Ritchie Boys“ und betrat 1944 am D-Day erstmals wieder europäischen Boden, um deutschen Kriegsgefangenen Informationen zu entlocken und damit zum Sieg der Alliierten über Nazideutschland beizutragen.

Dokumentarfilm über eine US-Spezialeinheit

Der 2004 veröffentlichte Dokumentarfilm „The Ritchie Boys“ über diese geheime Einheit der US-Army gibt einen Einblick in diese sehr prägende Lebensphase. Guy Stern hat 2003 in der Kulturfabrik über seine Erinnerungen gesprochen. Nach dem Krieg studierte Guy Stern Romanistik und Germanistik. Als Literaturwissenschaftler wurde er zu einem renommierten Experten für die neu entstehende deutsche Exilliteratur. Er arbeitete als Professor unter anderem für Deutsche Literatur- und Kulturgeschichte, ist Direktor eines Instituts des Holocaust-Museums in Detroit und einer der Mitbegründer der Lessing Society, deren Präsident er von 1975 bis 1977 war.

Guy Stern er- hielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik (1987) und die Goethe-Medaille (1989). Guy Stern kehrte immer wieder in ein sich ständig wandelndes Deutschland zurück und schreibt darüber in seinem Buch: „Im Krieg wie im Frieden ließ Deutschland mich nicht los, auch nicht als amerikanischen Staatsbürger. Und ich hoffe, in meinem langen Leben zu einem Vermittler und Versöhner zwischen beiden Völkern geworden zu sein.“ Auf Einladung der Mendel-Grundmann-Gesellschaft war er am 12. Juni 2003 in der Kulturfabrik, auch um über seine Erinnerungen an Vlotho zu sprechen. Auch in der Alten Synagoge in Petershagen war er mehrfach zu Gast.

Autobiografie von Guy Stern

In seiner Autobiografie berichtet Guy Stern mehrfach über die familiären Verbindungen zu Vlotho und über die ersten Begegnungen seiner Eltern im Kaufhaus Rüdenberg, wo der Vater arbeitete: „Hedwig und Julius trafen sich gewissermaßen über den Ladentisch hinweg: Meine zukünftige Mutter machte einen kleinen Einkauf bei Rüdenberg, und mein zukünftiger Vater bediente sie. Fotos bezeugen, dass sie ein glückliches, attraktives Paar waren, gut aufeinander eingespielt, doch uns Kindern haben sie nie von ihrer Romanze erzählt.“

Auch im Alter von 100 Jahren arbeitet Guy Stern noch immer unermüdlich für die Erinnerung an den Holocaust und als Brückenbauer zwischen Deutschland und den USA. Seine scharfen Beobachtungen einer Gesellschaft im Wandel und Begegnungen mit Menschen wie Marlene Dietrich, Thomas Mann, Lotte Lenya, Günter Grass oder James Baldwin gewähren tiefe Einblicke in die europäische und US-amerikanische Gesellschaft vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg und erzählen das ganz persönliche Jahrhundert eines außergewöhnlichen Lebens.

• Wir sind nur noch wenige – Erinnerungen eines hundertjährigen Ritchie Boys, Guy Stern, Aufbau Verlag Berlin, ISBN 978-3-351- 03943-1, 304 Seiten, 23 Euro  

Von MGG-Vorstandsmitglied Jürgen Gebhard, veröffentlicht in der Vlothoer Zeitung am 14. November 2022. Fotos: Privatarchiv Guy Stern.

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