Das Gemeindehaus an der Moltkestraße

Die Grundmanns gehörten zu den alteingesessenen jüdischen Familien Vlothos. Steuerlisten der jüdischen Gemeinde weisen sie als vergleichsweise wohlhabend aus. Mendel Grundmann (1844-1914) arbeitete als Müller und Steinbruchbesitzer. Er verpachtete günstiges Bauland an Zigarrenarbeiter, weshalb ihn die Stadt 1924 mit einem Straßennamen ehrte. Die 1965 ins Leben gerufene Mendel-Grundmann-Gesellschaft, die das Gedenken an die jüdischen Mitbürger wachhalten möchte, trägt seinen Namen.

Mendel Grundmanns gleichnamiger Onkel gründete 1859 eine Gerberei, die später um eine Großhandlung für Lederwaren und Schuhmacherbedarf ergänzt wurde. Sein Sohn Michel, der den Betrieb fortführte und modernisierte, erbaute 1910 eine Villa in der Moltkestraße. Aufgrund ehelicher und geschäftlicher Verbindungen zur Familie des Papierfabrikanten Mosheim wurde am Standort der 1928 aufgegebenen Gerberei eine Papiergroßhandlung eröffnet.

Villa 1935 der Gemeinde zum Kauf angeboten

Die Mendel-Grundmann-Gesellschaft hat sich in der Vergangenheit ausführlich mit Arisierungen und Wiedergutmachungsverfahren von Betrieben und Immobilienbesitz jüdischer Vlothoer Bürger befasst. Die Villa Grundmann in der Moltkestraße ist bislang kaum in den Fokus geraten. Sie wechselte bereits zwei Jahre vor der Arisierungswelle von 1938 den Besitzer. Doch aus gutem Grund gelten nicht nur Verkäufe auf der Basis der 1938 geschaffenen Gesetze als Arisierungen, sondern jeder Übergang von jüdischem Grund- und Immobilienbesitz in nichtjüdisches Eigentum im Dritten Reich.

Das alte Pfarrhaus in der Innenstadt

Durch fortschreitende Entrechtung und wirtschaftliche Existenzvernichtung gab es seit Mitte der 1930er Jahre keine „normalen“ Immobiliengeschäfte zwischen Juden und Christen mehr. In diesem Sinne ist die Aussage des MGG-Historikers Manfred Kluge zu verstehen, es habe sich bei der Villa Grundmann um einen „Zwangsverkauf“ (Gedenkbuch, S. 55) gehandelt. Allerdings gibt Kluges „Gedenkbuch“ nicht an, unter welchem konkreten Zwang die Verkäuferin Minna Grundmann handelte, als sie der reformierten Gemeinde St. Johannis das Gebäude 1935 zum Kauf anbot.

Hintergrund könnte die zweite Boykottwelle des Regimes gegen jüdische Geschäfte sein, die die Grundmannsche Papiergroßhandlung (Lange Str. 42/44, nahe der heutigen Kulturfabrik) in wirtschaftliche Schwierigkeiten brachte und den Druck, Auswanderungsvorbereitungen zu treffen, erhöhte. Zudem deutet vieles darauf hin, dass die Vlothoer Grundmanns auf eine Notlage reagieren mussten, in die ihre Essener Verwandten geraten waren. Die Verkaufsverhandlungen dauerten mehrere Monate und führten zunächst zu keinem Ergebnis. Ein notariell beglaubigtes Angebot über 25.000 Reichsmark vom März 1935 zog Minna Grundmann offenbar zurück. Im Januar 1936 erneuerte sie ihre Verkaufsabsicht, wobei ihr Sohn Erich und sein Schwiegervater Moses Mosheim die treibenden Kräfte waren und die Korrespondenz mit der Gemeinde führten.

In der Villa wohnte neben der Eigentümerin auch deren Stiefsohn Max mit seiner Frau Selma. Max Grundmann starb im Juli 1936, woraufhin Selma in die Mühlenstraße und ein Jahr später nach Opladen zog. Weil Minna Grundmann fürchtete, als Jüdin keine neue Wohnung zu finden, baten die Familien Grundmann und Mosheim um die Erlaubnis, auf dem Gelände der Villa für sie ein Hinterhaus zu bauen. Im Kaufvertrag wurde dieses Recht eingeräumt. Da Minna Grundmann doch eine neue Bleibe fand, machte sie davon keinen Gebrauch. Laut ihrer Kennkarte wohnte sie zuletzt in der Langen Straße 44.

Niedriger, aber marktüblicher Preis

Darlehen

Die Gemeinde zahlte im September 1936 für die Villa 28.500 Reichsmark. Das war ein niedriger, aber marktüblicher Preis. Die Tatsache, dass viele Menschen gleichzeitig ihre Häuser, Wohnungen und Grundstücke verkaufen mussten, drückte die Immobilienpreise. Selbst wenn die Käufer keinen Preisdruck ausübten, konnten jüdische Verkäufer von Häusern und Grundstücken 1935 im westfälischen Durchschnitt allein aufgrund der Marktbedingungen nur noch 60 Prozent des realen Werts erlösen. (Klatt, Unbequeme Vergangenheit, S. 145) Eine Differenz zwischen Preis und Wert von rund 40 Prozent kann auch im Fall der Villa Grundmann angenommen werden, zumal die Hypothekenbelastung deutlich über dem Kaufpreis lag.  Das Gebäude war mit einer Hypothek von 35.000 Goldmark belastet, die aus der Kaufsumme getilgt wurde.

Eingetragen war die Hypothek auf die Essener Firma Adolf Grundmann. Das einst prosperierende Modehaus mit rund 200 Angestellten war aber aufgrund der nationalsozialistischen Politik nicht in der Lage, sie abzutragen. Die nichtjüdische Kundschaft blieb aus. Die meisten Teilhaber und Familienmitglieder der Essener Grundmanns hatten Deutschland bis 1935 verlassen. Das Geschäft wurde 1936 „arisiert“, und man konnte den neuen Eigentümer kaum bitten, für Altschulden aufzukommen. So standen Minna Grundmann bzw. ihre Vlothoer Verwandten in der Haftung. Darüber hinaus war das Gebäude als Sicherheit für einen Kredit in Höhe von 8.000 Reichsmark bei einer niederländischen Firma genutzt worden. Die Akten geben keine Auskunft darüber, wann und von wem dieser Kredit aufgenommen wurde.

Günstiger Ersatz für baufälliges Gemeindehaus

Für die reformierte Gemeinde unter Pastor Wilhelm Kolfhaus war das Gebäude in der Moltkestraße eine ideale Lösung, um ihr baufälliges Gemeindehaus in der Weserstraße (heute Klosterstraße) zu ersetzen. Sie verkaufte es für 27.500 Reichsmark an die Kreissparkasse, die es zur Erweiterung des eigenen Hauses abreißen ließ.

Pfr. Dr. Kolfhaus

Folglich hatte die Gemeinde durch den Tausch eines baufälligen Gebäudes gegen eine Villa nur eine Differenz von 1.000 Reichsmark plus Grunderwerbssteuer und Instandsetzungskosten zu tragen. Hätte die Familie Grundmann zum vereinbarten Preis von 1.000 Reichsmark einen Teil des Geländes für den Bau des Hinterhauses zurückgekauft, wären für die Gemeinde allein Grunderwerbssteuer und Instandsetzungskosten angefallen.

Das Konsistorium billigte den Kauf und sorgte sich lediglich um einen ordnungsgemäßen Ablauf. Es ermahnte die Gemeinde, die Kaufsumme so lange zurückzuhalten, bis die Hypothek vollständig abgezahlt sei und verlangte einen Bericht über die veranschlagten Renovierungskosten. Im Zeitkontext verbirgt sich dahinter nicht nur die gewöhnliche Finanzaufsicht. Zu bedenken ist, dass die Kirchenprovinz Westfalens als Hochburg der Bekennenden Kirche unter Beobachtung der Gestapo stand und finanzielle Hilfsleistungen „unter der Hand“ für Juden eine potenzielle Gefährdung der eigenen Stellung bedeutet hätten.

Kein Geschäft auf Augenhöhe

Abrechnung

Es wurde kein Geschäft auf Augenhöhe getätigt, aber die Transaktion erfolgte immerhin noch unter Marktbedingungen. Nach dem Novemberpogrom 1938 radikalisierten die Nationalsozialisten ihre Arisierungspolitik. Jüdische Vermögenswerte wurden statistisch erfasst und die Betroffenen gesetzlich zum Verkauf gezwungen. Finanzämter und Gauwirtschaftsstellen kontrollierten den Ablauf, wählten die Käufer nach politischer Zuverlässigkeit aus und drückten die Preise auf ein Minimum. Die Förderung der Auswanderung stand nun nicht mehr im Mittelpunkt. Der Beginn des Zweiten Weltkriegs und insbesondere der Feldzug gegen die Sowjetunion eröffneten den Nationalsozialisten neue und noch radikalere Möglichkeiten, die so genannte „Judenfrage“ zu lösen.

Die Villa in der Moltkestraße war das einzige Haus der Grundmanns, das vor den Arisierungsgesetzen den Besitzer wechselte. Die Stadt Vlotho meldete im April 1938 an das Finanzamt, dass noch fünf Gebäude im Besitz der Familie seien in einem Gesamtwert von 76.000 Reichsmark. Davon seien Grundschulden in Höhe von 41.930 Reichsmark abzuziehen. Hinzu kamen noch unbebaute Grundstücke von geringerem Wert in Vlotho, Bad Oeynhausen und Bielefeld, die auf Minna Grundmann bzw. Betty Grundmann (Ehefrau von Mendel Grundmann) eingetragen waren.

Die nach und nach getätigten Verkäufe reichten nicht für die Auswanderung aller Familienmitglieder. Zudem taten sich die Grundmanns schwer, Aufnahmeländer zu finden. Auf der Konferenz von Évian im Juli 1938 fand die internationale Staatengemeinschaft keine Lösung für Aufnahme und Verteilung der Flüchtlinge aus dem Deutschen Reich. Zu diesem Zeitpunkt hatten fast nur noch Personen eine realistische Auswanderungschance, die über Vermögen oder Beziehungen verfügten oder einen wichtigen Beruf ausübten.

Emigration und Deportation

Minna Grundmann starb 1939. Selma Grundmann wurde 1941 von Opladen aus nach Riga deportiert. Minnas Enkel Richard emigrierte 1937 in die USA. Er war erst kurz zuvor nach Vlotho gezogen und hatte eine Arbeit bei der Firma Elsbach in Herford angetreten. Nachdem sich Richard in der Herforder Kleinbahn eine Schlägerei mit der HJ geliefert hatte, gab es keine Alternative zur Ausreise. Seine Eltern Erich und Dora Grundmann ebenso wie einige Mitglieder der Familie Mosheim wurden 1940 in das „Judenhaus“ Lange Straße 81 eingewiesen, das sie in Briefen ironisch als „unsere neue Villa“ bezeichneten. (Mosheim-Briefe, NL Kluge, Kommunalarchiv Herford) Erich und Dora Grundmann wurden mit ihren Töchtern Magdalene und Leoni (verh. Warschauer) 1942 ins Warschauer Ghetto deportiert und vermutlich in Treblinka oder Auschwitz ermordet. Ernst Warschauer, Leonis Ehemann, war bereits im Dezember 1938 im KZ Buchenwald umgekommen.

Gustav Grundmann, zweiter Stiefsohn von Minna Grundmann und letzter Eigentümer der Gerberei, gelang es hingegen, wenige Monate vor Kriegsbeginn mit seiner Familie nach Großbritannien auszuwandern. Entscheidend waren die Beziehungen von Hans und Margarete Grundmann, die als ausgebildete Mediziner bereits seit 1936 in Sheffield arbeiteten. Der Verkauf der Villa spielte keine Rolle. Auch wenn ein kleiner Teil der Schuldenlast eventuell bereits zuvor abbezahlt worden war (– dazu findet man in den Quellen widersprüchliche Angaben –), hat es keinen nennenswerten Reinerlös gegeben, der für eine der beiden Auswanderungen hätte aufgewendet werden können. Zudem muss man berücksichtigen, dass 1936 noch die Verdrängung der Juden aus Deutschland das Ziel der Nationalsozialisten war. Jeder Arisierungsvorgang leistete dazu einen Beitrag, auch wenn nur ein Bruchteil der Erlöse überhaupt ins Ausland transferiert werden konnte.

Wie auch im vorliegenden Fall mussten viele jüdische Privatpersonen und Betriebe Schulden abtragen, die sich aus der nationalsozialistischen Diskriminierungspolitik ergeben hatten. Außerdem wurden Arisierungserlöse bei Auswanderungswilligen auf Sperrkonten eingezahlt und durch Reichsfluchtsteuer und Dego-Abgabe abgeschöpft. Bereits 1935 lag der durchschnittliche Verlust durch einen Devisentransfer bei 80 Prozent.

Villa als „Wiedergutmachungsvermögen“ eingestuft

Erklärung

Nach dem Krieg legten die Westalliierten im Militärregierungsgesetz Nr. 59 fest, dass alle nach dem Inkrafttreten der Nürnberger Gesetze (Stichtag 15.9.1935) getätigten Arisierungen rückerstattungspflichtig sind. Die Durchführung wurde den deutschen Behörden und Gerichten überlassen. Lediglich die letztinstanzliche Entscheidung blieb den Alliierten vorbehalten. Entsprechend der Anordnung der Besatzungsmächte stufte der Landkreis die Villa Grundmann mit Bescheid vom Oktober 1948 als „Wiedergutmachungsvermögen“ ein. Damit war die Verpflichtung verbunden, berechtigte Ansprüche ehemaliger jüdischer Eigentümer durch Entschädigung oder Rückgabe abzufinden. Bis dahin durfte das Wiedergutmachungsvermögen nicht weitergegeben, verkauft oder beliehen werden.

Pastor Barth muss Umstände des Kaufs schildern

Pfr. Hermann Barth

In einem Fragebogen der britischen Militäradministration sollte Pastor Hermann Barth, der 1940 die Nachfolge von Pastor Kolfhaus angetreten hatte, die Umstände des Kaufs schildern. Er benannte den 1910 verstorbenen Erbauer der Villa Michel Grundmann als Verkäufer. Hinter dessen Namen ist die handschriftliche Ergänzung zu erkennen „jetzige Adresse unbekannt“. Ferner gab Barth an, der Besitzer habe sich seit langem in finanziellen Schwierigkeiten befunden, die im Wesentlichen durch unglückliche Geschäftsführung und nicht durch die nationalsozialistische Politik hervorgerufen worden seien. Er habe nach England auswandern wollen. Sein ursprüngliches Angebot über 25.000 Reichsmark habe die Kirchengemeinde auf 28.500 Reichsmark erhöht. Der Kauf stehe nicht im Zusammenhang mit der „Judenaktion“ des Dritten Reiches, d.h. Pogromnacht und Arisierungsgesetze von 1938.

Die Gemeinde sei im Besitz eines Schreibens des „Herrn Grundmann“, worin er der Kirchengemeinde für ihr Entgegenkommen und ihre pünktliche Zahlung danke. Die Hypothek und die Hinterhauspläne erwähnte Barth nicht. Minna Grundmann als wahre Eigentümerin wurde auf dem Formular handschriftlich nachgetragen. Eine Verwechslung mit einem anderen Mitglied der Grundmann-Familie ist schwer vorstellbar. Erich Grundmann führte zwar die Verkaufsverhandlungen für seine Mutter, aber die Villa war nicht sein Eigentum. Zudem war er kein verschuldeter Kaufmann, sondern Geschäftsführer der Papierfabrik Mosheim.

Gustav Grundmann, der tatsächlich nach Großbritannien auswanderte, trat beim Verkauf der Villa nicht in Erscheinung. Die Verbindung zum Essener Modehaus hätte man aus dem Grundbucheintrag erkennen können. Die wirtschaftlichen Probleme des Geschäfts hatten nichts mit dem Erbauer der Villa zu tun und waren unzweifelhaft durch die Nationalsozialisten verschuldet. Tatsächlich erfolgte der Kauf vor den Gesetzen zur Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben. Dennoch war die Judenpolitik des Regimes der entscheidende Faktor. In die Phase der Verkaufsverhandlungen fielen unter anderem die Boykottaktion, der Kurfürstendamm-Krawall und die Nürnberger Gesetze von 1935.

Sechs Familienangehörige kamen im Holocaust um

Da in Grundbuch, Kaufvertrag und Auflassung explizit von Minna Grundmann, „Witwe des Michel Grundmann“, die Rede ist, muss die „Wiederbelebung“ Michel Grundmanns umso mehr erstaunen. Sie kann eigentlich nur dem Zweck gedient haben, die Nennung einer alten Witwe als Geschädigte gegenüber der Besatzungsmacht zu vermeiden. Es lässt sich nicht mehr rekonstruieren, ob Hermann Barth zu diesem Zeitpunkt über die Angelegenheit nicht korrekt unterrichtet war oder glaubte, mit Notlügen eine Beschlagnahmung des Gemeindehauses durch die Briten abwenden zu müssen.

Jedenfalls kursiert seine irreführende Darstellung der Ereignisse in der Gemeinde noch heute und hat zu der falschen Einschätzung geführt, der Kauf der Villa habe der Familie Richard Grundmanns die Auswanderung ermöglicht. Tatsächlich wanderte er alleine aus, während sechs seiner Familienangehörigen im Holocaust umkamen. Das Dankesschreiben des „Herrn Grundmann“ ist nicht überliefert. Auch trifft es, wenn man Pastor Barths Angaben folgt, gar keine Aussage über die Verwendung des Kaufpreises.

Unter der Aufsicht der Militäradministration

1948 hatte die Amtsverwaltung Vlotho dem Kreisbeauftragten für gesperrte Vermögen mitgeteilt, dass in der Angelegenheit Moltkestraße 2 weitere Maßnahmen zur Sicherstellung des Vermögens nicht erforderlich seien. Der Kreisbeauftragte ordnete dennoch eine Vermögensbeaufsichtigung nach dem Militärregierungsgesetz Nr. 52 an, was faktisch bedeutete, dass die Gemeinde nicht mehr Eigentümerin von Haus und Grundstück war, sondern nur noch Verwalterin unter der Aufsicht der Militäradministration. Außerdem setzte er im April 1950 einen unabhängigen Treuhänder für die Villa Grundmann ein. Ihm sei Einsichtnahme in alle relevanten Akten zu gewähren.

Eine Begründung wurde nicht beigefügt, lediglich der Verweis auf die Artikel 44 und 45 des Rückerstattungsgesetzes, die den Behörden Sicherstellungsmaßnahmen erlaubten. Es ist unwahrscheinlich, dass die Unstimmigkeiten in der Erklärung Pastor Barths den Anlass für diesen Schritt gegeben haben. Noch in der Überweisung des Falls an die Wiedergutmachungskammer am Landgericht Bielefeld vom Februar 1953 wird der „Kaufmann Michel Grundmann“ als Geschädigter aufgeführt. Ausweislich der vorhandenen Quellen wurde der eigesetzte Treuhänder J. Malinowski aus Minden in der Sache nie tätig.

1951 schaltete sich die Jewish Trust Corporation (JTC) ein. Als Treuhandgesellschaft klagte sie in der britischen und französischen Besatzungszone Entschädigungen ein, wenn die arisierungsgeschädigten Eigentümer bzw. erbberechtigten Personen nicht mehr am Leben waren oder keine Ansprüche anmeldeten. Eingenommene Gelder wurden an jüdische Institutionen und Hilfsorganisationen ausgeschüttet. Die JTC ließ über die Amtsverwaltung Vlotho Anfragen über Kaufpreis und Wert ehemaliger Arisierungsobjekte an mehrere Firmen und Privatpersonen stellen.

Rückerstattung

Die Betroffenen, einschließlich Pastor Barth, wurden im Juli 1951 vom Stadtdirektor zu einer „Besprechung über Rückerstattungsangelegenheiten“ vorgeladen, über deren Inhalt leider nichts überliefert ist. Wahrscheinlich wurden die Aussagen der Arisierungsgewinner protokolliert, denn die Stadt übermittelte einen Tag nach der Besprechung die Antwortschreiben an die JTC. Diesmal machte Hermann Barth insofern korrekte Angaben, als er die aus der Kaufsumme abgezahlte Hypothek erwähnte. Den aktuellen Wert des Gebäudes bezifferte er auf 36.000 DM. Der Mehrwert gegenüber den gezahlten 28.500 Reichsmark erkläre sich aus zwischenzeitlich durchgeführten Renovierungsarbeiten. In der Tat hatte die Gemeinde direkt nach dem Kauf das Gebäude aufwändig umbauen und instand setzen lassen. Jedoch deutet die Höhe der 1927 aufgenommenen Hypothek darauf hin, dass der Beleihungswert von Immobilie und Grundbesitz, d.h. der jederzeit bei einer Versteigerung erzielbare Mindesterlös, deutlich über 28.500 Reichsmark gelegen haben muss.

Kauf auf 1935 zurückdatiert

Im Zuge der Preisfindung hatte die Gemeinde den Wert 1936 schätzen lassen und sich an den Angaben der Experten orientiert. Die Schätzung lag zwar über dem von Minna Grundmann anfänglich geforderten Preis, dürfte unter den gegebenen Zeitumständen den Gebäudewert aber kaum realistisch abgebildet haben. Auffällig ist, dass die zweite Stellungnahme gar keine Angaben zur Person des Verkäufers macht, also erneut die Nennung Minna Grundmanns vermeidet. Der Kauf wird in der Stellungnahme auf 1935 zurückdatiert. Aufgrund der Stichtagsregelung wäre das Geschäft rückerstattungsfrei geblieben, wenn es ein Jahr früher getätigt worden wäre.

Neben der Jewish Trust Corporation meldete auch Werner Ilberg aus Wolfenbüttel, ein Schwager Selma Grundmanns, Entschädigungsansprüche an. Nachdem er seine Erbberechtigung nicht nachweisen konnte, zog er den Antrag zurück. Da keine berechtigten Eigentümer oder Erben Ansprüche erhoben, war die reformierte Gemeinde in der Rückerstattungsangelegenheit in einer vergleichsweise günstigen Position. Die Jewish Trust Corporation hatte kein Interesse an einer Rückgabe des Gebäudes. Zudem bearbeitete die Organisation tausende Fälle gleichzeitig, konnte nicht jeden im Detail prüfen und verfügte nicht über das Wissen, das Eigentümer oder Erben gehabt hätten.

Vergleich mit der Jewish Trust Corporation

JT Corporation
Rückerstattung

In Wiedergutmachungsverfahren galt allerdings die Beweislastumkehr, d.h. die Gemeinde hätte aus den Kaufunterlagen nachweisen müssen, dass sie einen fairen Preis gezahlt und keine Notlage ausgenutzt hat. Artikel 3 des Rückerstattungsgesetzes schloss Rückgabe und Entschädigung sogar ganz aus, wenn der Käufer im Dritten Reich in besonderer Weise an der Verhinderung eines Vermögensschadens mitgewirkt hatte. Dabei konnte es sich um Barzahlungen „unter der Hand“ oder die Verschiebung von Geldern ins Ausland handeln. Da der Erwerbsvorgang 1936 unter der Aufsicht des Konsistoriums stand, gab es dafür keinen Spielraum, selbst wenn der Wille vorhanden gewesen wäre. Durch ihre Verschleierungstaktik setzte sich die Gemeinde selbst unter Druck, da sie die Offenlegung der Kaufunterlagen im Rahmen einer Beweisaufnahme nicht riskieren konnte.

Das wäre nicht nur peinlich gewesen, sondern hätte auch strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen können. Knapp einen Monat vor dem angesetzten Verhandlungstermin (14.7.1953) signalisierte die Gemeinde über ihren Rechtsanwalt Adriani Kompromissbereitschaft. Im September 1953 schlossen die Gemeinde und die Jewish Trust Corporation am Landgericht Bielefeld einen Vergleich. Gegen eine Zahlung von 10.000 DM verblieb die Villa im Besitz der Gemeinde. Der Rückerstattungsvermerk wurde aus dem Grundbuch gelöscht. Ferner wurde festgehalten, dass erbberechtigte Personen, die im Nachhinein Ansprüche erheben, von der Jewish Trust Corporation abzufinden seien.

Herausgabe von Möbeln verlangt

Schreiben
Deklaration
Wiedergutmachung

Wenige Monate nach Kriegsende beantragte Sigmund Mosheim, ein Neffe Richard Grundmanns, als Bevollmächtigter der Überlebenden bei der Stadt Vlotho die Herausgabe von Möbeln, die emigrierte und deportierte Juden zurückgelassen hatten. Daraufhin übersandte ihm die Stadt eine Auflistung ermittelter Objekte und ihrer aktuellen Besitzer. Eine Übergabe ohne formelles Rückerstattungsverfahren sei nicht möglich. Es kam dann allerdings zu einem Verfahren nach bürgerlichem Recht, um nicht jeden Letzterwerber einzeln zur Rechenschaft ziehen zu müssen und wohl auch, um die Stadt zu zwingen, ihre damalige Handlungsweise offen zu legen.

Die Familien Grundmann und Mosheim verklagten Anfang der 1950er Jahre die Amtsverwaltung Vlotho wegen des Raubes von Möbeln und Einrichtungsgegenständen. Dabei ging es auch um einen Bücherschrank und ein Klavier aus der Villa Grundmann, die Richards Eltern gehörten. Die reformierte Gemeinde bestritt, die Gegenstände zu besitzen. Der ehemalige Vlothoer Bürgermeister Wilhelm Sappke sagte als Zeuge aus, das Eigentum deportierter Juden sei an die NS-Volkswohlfahrt übergeben und von der Fürsorgerin Anna Malz verkauft oder an Bedürftige verschenkt worden. Das Verfahren endete im Februar 1953 am Landgericht Bielefeld mit einem Vergleich.

Gegen eine Zahlung von 500 DM, zu zahlen durch die Stadt Vlotho und die Firma Schöning (Käufer von Grundstück und Betrieb Lange Str. 42/44), verzichteten die Familien auf weitere Ansprüche. Die niedrige Summe erklärt sich nicht nur aus Schwierigkeiten, den Wert und Verbleib einzelner Objekte festzustellen. Auch blieb es strittig, ob der Umgang mit zurückgelassenem Eigentum überhaupt den Straftatbestand des Raubes erfüllte – mit Ausnahme jener Fälle, in denen sogar gegen NS-Gesetze verstoßen wurde. Erfolgreicher verlief ein Verfahren an der Wiedergutmachungskammer, die Richard Grundmann 1954 Schadensersatz zu Lasten der Staatskasse für konfiszierte Möbel aus allen Haushalten seiner Familie im Gegenwert von 4.500 Reichsmark zusprach.

Soweit bekannt hat sich Richard Grundmann nicht um eine Entschädigung für die Arisierung der Villa bemüht, obwohl der Vergleich zwischen der Gemeinde und der Jewish Trust Corporation diese Option durchaus offen ließ. Die Erfolgsaussichten wären gering gewesen, da es sich nach dem Tod der Erben Erich und Dora Grundmann formal um erbenloses Vermögen handelte. Im Grundbuch war nicht Richard, sondern Gustav Grundmann, als Nacherbe eingetragen. Er starb 1942 in Sheffield. Richard hätte ein Testament zu seinen Gunsten vorlegen müssen. Zudem fielen durch Arisierungen erlittene Einbußen nicht unter das Bundesentschädigungsgesetz, sondern wurden nach den Vorgaben des Rückerstattungsgesetzes behandelt. In der Praxis mussten Ansprüche auf dem Klageweg gegen Arisierungsgewinner oder Treuhänder erstritten werden.

Diskriminierungspolitik und Mitnahmeeffekte

Die Gemeinde St. Johannis gehörte der Bekennenden Kirche an, und es wäre eine falsche Schlussfolgerung aus den hier dargestellten Begebenheiten, ihr eine Nähe zum Nationalsozialismus zu unterstellen. Arisierungen waren aber nicht allein eine Angelegenheit korrupter NS-Funktionäre. Sie setzten keine antisemitische Gesinnung der Arisierungsgewinner voraus und waren bis 1938 auch nicht obrigkeitlich verordnet bzw. reguliert. Vielmehr ergaben sie sich aus dem Zusammenspiel von Diskriminierungspolitik und ökonomischen Mitnahmeeffekten, von denen auch Personen und Institutionen profitieren konnten, die dem Regime fernstanden. In den rechtlichen Rahmenbedingungen der Wiedergutmachung ist dies von Anfang an berücksichtigt worden.

Dass auch Personen, die keine Nazis waren, zur finanziellen Verantwortung gezogen wurden, stieß in der Nachkriegszeit jedoch auf wenig Verständnis und provozierte Versuche, das eigene Handeln nachträglich in ein besseres Licht zu rücken.

Text: Thomas Gräfe im Auftrag des Vorstands der Mendel-Grundmann-Gesellschaft

Eine Version des Textes mit Quellenangaben und Bildmaterial erscheint im Herforder Jahrbuch 2024.

Hinweis: Dokumente können durch Anklicken der Bildunterzeile als pdf eingesehen werden.

Literatur

• Constantin Goschler, Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945, Göttingen (2.Aufl.) 2008.
• Paul Grundmann, Die Familie Grundmann in Essen, in: Hermann Schröter (Hg.), Geschichte und Schicksal der Essener Juden. Gedenkbuch für die  jüdischen Mitbürger der Stadt Essen, Essen 1980, S. 148-154.
• Marlene Klatt, Unbequeme Vergangenheit. Antisemitismus, Judenverfolgung und Wiedergutmachung in Westfalen 1925-1965, Paderborn 2009.
• Manfred Kluge, Gedenkbuch für die Vlothoer Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung, Vlotho 2008.
• Manfred Kluge, Sie waren Bürger unserer Stadt. Beiträge zur Geschichte der Juden in Vlotho, Löhne 2013.
• Jürgen Lillteicher, Rückerstattung jüdischen Vermögens in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, Freiburg 2002.
• Norbert Sahrhage, Diktatur und Demokratie in einer protestantischen Region. Stadt und Landkreis Herford 1929 bis 1953, Bielefeld 2005.

Quellen

• 184: Gebäudeverwaltung, Rückerstattungssache 1937-1953 und 187: Unterhaltung des alten Pfarrhauses 1936-1937, Bestand 4.46 Archiv der Ev.-Ref. St.-Johannis-Kirchengemeinde Vlotho, in: Landeskirchliches Archiv Bielefeld.
• Akten zum Kauf des Gemeindehauses Moltrestr. 2, in: Archiv der Ev.-ref. Kirchengemeinde St. Johannis Vlotho.
• C415: Arisierung und Wiedergutmachung, in: Stadtarchiv Vlotho.
• D1, 1385, 1542: Arisierungsakten und D 20 A Nr. 8033: Wiedergutmachungsverfahren am Landgericht Bielefeld, in: Landesarchiv Detmold.
• Rückerstattungsanspruch Grundmann und Moss, in: Stadtarchiv Vlotho.
• Stammbaum der Familie Grundmann, Mosheim-Briefe, Nachlass Manfred Kluge, in: Kommunalarchiv Herford.
• Wiedergutmachung nach dem Bundesentschädigungsgesetz, Sig. 7 und 99, in: Kommunalarchiv Herford.

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